Mit Erstaunen und Besorgnis haben wir von dem vorgeschlagenen Modellvorhaben zur Einführung der Genomsequenzierung Kenntnis genommen. Eine zeitnahe und richtige Diagnose verbessert die Versorgung und die Prognose für Lebensqualität und Lebensdauer der Betroffenen enorm. Die Zielsetzung des Modellvorhabens, auch die Erkennisse aus der Genomsequenzierung zur Diagnosestellung zu nutzen, wird deshalb von der ACHSE begrüßt. Eine richtige Diagnose sowie eine Verbesserung von Lebensqualität und Lebensdauer ist allerdings nur zu erwarten, wenn die Genomsequenzierung von Experten in dem richtigen Versorgungskontext eingesetzt wird.
Wir fordern, das Modellvorhaben zur Genomsequenzierung zuerst nur auf die bestehenden, spezialisierten Zentren anzuwenden, unter der Berücksichtigung der Vorgaben, die in TRANSLATE-NAMSE entwickelt und im Selektivertrag festgelegt wurden.
ACHSE kritisiert, dass die Erkenntnisse aus dem vom BMG finanzierten genomDE in dem Modellvorhaben nicht berücksichtigt werden und fordert die Vernetzung zu genomDE und den eingebundenen Expert:innen sicherzustellen und deren Empfehlungen zur Vorgehensweise bei der Etablierung der Genomsequenzierung in Deutschland zugrunde zu legen.
Die frühzeitige und präzise Diagnose ist die Voraussetzung, um eine Seltene Erkrankung nicht nur symptomatisch, sondern möglichst ursachenorientiert behandeln zu können. Damit lassen sich schwere Krankheitsmanifestationen sowie unnötige diagnostische Maßnahmen und die damit verbundenen Belastungen für die Patient:innen verhindern.
Da davon ausgegangen wird, dass etwa 80% der Seltenen Erkrankungen auf eine genetische Ursache zurückzuführen sind, werden mit den rasanten Fortschritten in der genetischen Diagnostik seitens der Betroffenen große Hoffnungen verbunden, zum einen in Bezug auf den Erkenntniszuwachs im Zuge der molekularen Erforschung einzelner Erkrankungen, zum anderen mit Blick auf die Anwendung innovativer genetischer Methoden in der Regelversorgung. Die Exomsequenzierung hat sich in dieser Beziehung schon als sehr erfolgreich erwiesen, von der Genomsequenzierung erhoffen wir einen weiteren Zugewinn für die Zukunft.
Die genetische Diagnostik ist jedoch nur ein Baustein, eingebettet in ein umfängliches, definiertes Maßnahmenpaket, um die angemessene Versorgung von Betroffenen von Seltenen Erkrankungen und ein hohes Maß an Behandlungsqualität sicher zu stellen. Hierzu bedarf es – auch um Ressourcen zu schonen - einer stringenten, strukturierten, abgestimmten Vorgehensweise unter klinischen Experten mit Spezialwissen aus verschiedensten Disziplinen, der engen Verknüpfung mit Forschung und der sektorenübergreifenden Vernetzung mit medizinischen und therapeutischen Experten. Darüber hinaus ist auch ein hoher Grad an persönlichem Einsatz und Kooperationsbereitschaft der beteiligten Akteure erforderlich.
Dass dies gelingen kann, wurde in dem Innovationsfondsprojekt TRANSLATE-NAMSE, das auf einem engen Verbund spezialisierter Zentren für Seltene Erkrankungen aufbaut, bewiesen. Der hierbei entwickelte strukturierte Patientenpfad für Patienten mit unklarer, aber auch mit Seltener Erkrankung, der b.B. interdisziplinäre Fallkonferenzen und spezialisierte Gendiagnostik vorsieht, wird durch Selektivverträge mit den Krankenkassen fortgeführt.
Das von Ihnen vorgeschlagene Modellvorhaben zur Einführung der Genomsequenzierung orientiert sich ganz offensichtlich an dem Vorgehen bei TRANSLATE-NAMSE, öffnet den Zugang zur Leistungserbringung aber auch privaten Laborbetreibern bei entsprechender klinischer Anbindung. Als Konsortialpartner in TRANSLATE-NAMSE haben wir erfahren, wie viel Austausch, Absprachen und organisatorischer Detailarbeit es bedarf, um eine strukturierte Versorgung mit all ihren verschiedenen Elementen zu gestalten und durchzuführen. Ob private Laborbetreiber der Komplexität der Versorgungsituation adäquat begegnen können und auch über eine Vernetzung verfügen, die die erforderliche klinische Spezialisierung vorhält, stellen wir in Frage. Und befürchten, dass dies zu Einbußen in der Versorgungsqualität führen kann!
Bereits im Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen wurde darauf hingewiesen, dass es zur krankheitsspezifischen Versorgung der Betroffenen aufgrund der mit der Seltenheit der Erkrankungen verbundenen Herausforderungen (zu wenig Wissen, zu wenig Experten, zu wenig Therapien, zu wenig Forschung) spezialisierter Zentren bedarf und dies mit entsprechenden Maßnahmen von den Bündnispartnern des Nationalen Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) versehen. Die Genomsequenzierung als Bestandteil einer umfassenden Versorgung erfordert in einem noch weit größeren Maß als bisherige humangenetische Untersuchungen die Bündelung von klinischer Expertise, spezialisierter Labortechnik und Grundlagenforschung – es stellen sich bspw. neue Herausforderungen in der Beratung der Patienten bezüglich möglicher Befunde und klinischer Konsequenzen; wie dies außerhalb der Zentren angemessen, wirkungsvoll und patientenorientiert gelingen soll, ist uns nicht ersichtlich.
In dem Modellvorhaben wird von der Entwicklung einer Dateninfrastruktur durch das BMG gesprochen, ohne dass Angaben zur Fertigstellung, Anforderungen an die Einbindung von Datenbankexpert:innen und Kompatibilität und Interoperabilität mit bestehenden Datenbanken gemacht werden. Dies ist insofern bemerkenswert und kritisch zu hinterfragen als sich seit Herbst 2020 eine Gruppe ausgewiesener interdisziplinärer Experten (inklusive ACHSE e.V.) auf Einladung des BMG im Rahmen von genomDE in zahlreichen Online-Workshops damit beschäftigen, wie sich die Genomsequenzierung auf nationaler Ebene gut in bestehende Strukturen einbetten, der Zugang zur Diagnostik effektiv und effizient gewährleistet und daraus größtmöglicher Nutzen für Forschung und Versorgung generieren lässt. Dass die Empfehlungen aus genomDE in dem Modellvorhaben offensichtlich keine Berücksichtigung finden, ist für die in genomDE eingebundenen Expert:innen schwierig zu verstehen.
Wir fordern, das Modellvorhaben zur Genomsequenzierung zuerst nur auf die bestehenden, spezialisierten Zentren anzuwenden, unter der Berücksichtigung der Vorgaben, die in TRANSLATE-NAMSE entwickelt und im Selektivertrag festgelegt wurden. Darauf aufbauend kann in den nächsten Jahren Erfahrung in der Umsetzung und Anwendung der Genomdiagnostik gesammelt werden.
Darüber hinaus raten wir dringend auf die Empfehlungen aus genomDE bei der Entwicklung von infrastrukturellen Maßnahmen, die die Etablierung der Genomsequenzierung in Deutschland unterstützen sollen, zurückzugreifen und das weitere Vorgehen daran anzupassen.
Dr. med. Christine Mundlos
stellvertretende Geschäftsführerin/ ACHSE Lotsin für Ärzte und Therapeuten/ Leiterin ACHSE Wissensnetzwerk und Beratung
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