Zu den besonders schweren Epilepsien zählen medikamentenresistente epileptische Enzephalopathien (EE), die z.B. durch Mutationen im KCNA2 Gen verursacht werden können. Betroffene leiden schon ab dem ersten Lebensjahr unter generalisierten epileptischen Anfällen. Ihre geistige Entwicklung verläuft in der Regel massiv verzögert. Dass eine gestörte Funktion des von KCNA2 codierten Kaliumkanals ein Ansatzpunkt für neue Therapieoptionen für diese seltene Form der Epilepsie sein könnte, ahnten Dr. Ulrike Hedrich-Klimosch und ihr Team vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen bereits 2014. Damals identifizierten die diesjährigen Preisträger des Eva Luise Köhler Forschungspreises für Seltene Erkrankungen in Zusammenarbeit mit Prof. Johannes Lemke von der Universitätsklinik Leipzig Mutationen im KCNA2 Gen als eine Ursache für epileptische Enzephalopathien.
KCNA2 codiert einen spannungsgesteuerten Kaliumkanal, den man sich wie eine Pore vorstellen kann, die die Diffusion von Kaliumionen durch die Zellmembran steuert. Er spielt bei der Weiterleitung elektrischer Impulse von Nervenzellen eine wichtige Rolle. Bei Patientinnen und Patienten mit Mutationen im KCNA2 Gen ist die Erregbarkeit der Nervenzellen gestört, wodurch es zu besonders schwerwiegenden epileptischen Anfällen kommt. Dabei kann, abhängig davon, welche Mutation vorliegt, die Funktionalität des Kaliumkanals auf drei unterschiedliche Arten betroffen sein – was zu völlig unterschiedlich schwerwiegenden Verläufen führt: Patienten, deren Kaliumfluss infolge spezifischer Mutationen stark eingeschränkt ist („LoF - loss of function"), zeigen nur eine milde mentale Retardierung und entwickeln ab dem Kleinkindalter lokal begrenzte epileptische Anfälle, die sich bis zum Jugendalter häufig wieder verlieren. Führt die Mutation jedoch zu einer gesteigerten Kanalfunktion („GoF – gain of function"), leiden die Patienten schon ab dem ersten Lebensjahr unter schwereren epileptischen Anfällen, die das gesamte Hirn betreffen und mit stärkeren Entwicklungsproblemen einhergehen.
Interessanter Weise zeigt eine dritte Gruppe eine gemischte Beeinträchtigung der Kanalfunktion, die sich durch einen eingeschränkten Kaliumfluss durch die Pore bei gleichzeitig anderweitig gesteigerter Funktion äußert. Kinder mit Mutationen, die eine gemischte Beeinträchtigung der Kanalfunktion verursachen, entwickeln bereits sehr früh generalisierte Anfälle und leiden teilweise unter noch gravierenderen Entwicklungsproblemen. „Als wir diese Funktionsweisen bei uns im Labor anhand von Zellsystemen in vitro nachvollziehen konnten, lag es auf der Hand, dass 4-Aminopyridin als bekannter Blocker dieser Kanäle eine Therapieoption für Patienten mit gesteigerter Kanalfunktion darstellen könnte," schildert Prof. Holger Lerche und erläutert, dass der Kaliumkanalblocker bereits seit vielen Jahren erfolgreich für die Behandlung von MS, aber auch von Episodischer Ataxie eingesetzt werde: „Unsere Hypothese haben wir dann anhand eines ersten individuellen Heilungsversuchs, der sehr ermutigend verlief, überprüft."
Im Rahmen des von der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Seltene Erkrankungen finanzierten Projektes sollen nun die funktionalen Auswirkungen aller Mutationen in KCNA2 systematisch untersucht und der Genotyp-Phänotyp-Zusammenhang in einer frei zugänglichen Datenbank erfasst werden. „Mit einer solchen Datenbank könnten wir möglichst viele Ärztinnen und Ärzte in Kliniken und Praxen erreichen, die Patientinnen und Patienten betreuen, deren klinisches Bild zu einer KCNA2 Mutation passt", erläutert Ulrike Hedrich-Klimosch und ergänzt: „Wenn diese dann genetisch bestätigt werden, kann mit der Datenbank rasch entschieden werden, ob eine 4-AP-Therapie erfolgversprechend ist und diese begonnen werden. So können wir die Auswirkungen der Kaliumkanaldefekte, wie Entwicklungsverzögerungen und schwere epileptische Anfälle, minimieren und die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien hoffentlich deutlich verbessern."
In Tübingen arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Hertie-Institut daher schon heute eng mit Neurologen, Neuropädiatern und Neurochirurgen im Universitätsklinikum zusammen, um die Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung direkt in die Klinik einzubringen.
Dr. rer. nat. Ulrike Hedrich-Klimosch (*1980 in Schwäbisch Gmünd) studierte von 1999 bis 2004 Biologie an der Universität Ulm und promovierte 2008 bei PD Dr. Wolfgang Stein in der Abteilung Neurobiologie (Leitung Prof. Dr. Harald Wolf) an der Universität Ulm über die Aktivierung und das Zusammenspiel höherer neuronaler Zentren auf zentrale Mustergeneratoren im stomatogastrischen Nervensystem des Taschenkrebses. Danach wechselte sie als Postdoktorandin zu Prof. Dr. Holger Lerche in die Abteilungen Neurologie und Angewandte Physiologie an der Universität Ulm. Seit 2010 ist sie Postdoktorandin am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung in der Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt Epileptologie unter der Leitung von Prof. Dr. Holger Lerche, wo sie sich insbesondere mit der Untersuchung von Natrium- und Kaliumkanaldefekten in heterologen Expressionsystemen und Mausmodellen beschäftigt.
Prof. Dr. med. Holger Lerche studierte Physik und Humanmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und promovierte 1996 über die Mechanismen von Myotonien bei Prof. Dr. Lehmann-Horn. Während seiner Tätigkeit als Facharzt in der Neurologischen Klinik der Universität Ulm habilitierte er sich im Jahr 2000 über die Pathophysiologie von Ionenkanalerkrankungen der Muskulatur und des Gehirns. Als Heisenberg Stipendiat (2003-2008) war er dort als Oberarzt und Leiter der Epileptologie an der Neurologischen Klinik der Universität Ulm tätig. 2009 erhielt er den Ruf auf den Lehrstuhl für Neurologie mit Schwerpunkt Epileptologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen. Seine Arbeitsgruppe am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung befasst sich mit der Genetik und Pathophysiologie erblicher Epilepsiesyndrome und verwandter neurologischer Erkrankungen, der damit zusammenhängenden Erregbarkeit von Nervenzellen sowie der Funktion, Expression und Pharmakologie von Ionenkanälen und -transportern.
Als Co-Bewerber ausgezeichnet werden zudem Dr. med Stefan Lauxmann und Dr. med. Thomas Wuttke, die als Assistenzärzte in der Abt. Neurologie mit Schwerpunkt Epileptologie bzw. der Klinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikums Tübingen und beide zusätzlich am Hertie-Institut für Klinische Hirnforschung arbeiten, sowie Dr. med. Markus Wolff, der Leitende Oberarzt der Abt. Neuropädiatrie, Entwicklungsneurologie, Sozialpädiatrie der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen.
Bianca Paslak-Leptien
Leiterin Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
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