"Wir arbeiten am Puls"

Interview mit der ACHSE Lotsin Dr. med. Christine Mundlos

Seit ihrem Bestehen bietet die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen e.V. Beratung für Betroffene an. 2008 wurde das Angebot um die Beratung für Mediziner, Therapeuten und Forscher erweitert. Die Anfragenden werden von der ACHSE Lotsin Dr. med. Christine Mundlos im Umgang mit Seltenen Erkrankungen unterstützt. Dr. Mundlos ist studierte Medizinerin, hat selbst im Bereich der Genetik geforscht und einen Master in Wissenschaftskommunikation und –marketing erworben. Sie leitet die ACHSE Beratung. Wir haben mit ihr über ihre Arbeit bei der ACHSE gesprochen.

Was ist Ihre Aufgabe als ACHSE Lotsin?
An mich können sich Mediziner und Therapeuten wenden, die Patienten mit Seltenen Erkrankungen versorgen und dazu Fragen haben. Auch bei Patienten mit noch unklarer Diagnose stehe ich zur Seite. Ich stelle keine Diagnosen und gebe auch keine Therapieempfehlungen, sondern versuche als „lebendige Schnittstelle" mit geeigneten Experten in der Patientenselbsthilfe und Medizin zu vernetzen. Wenn sich Forscher an uns wenden, suchen sie meist nach Patienten für ihre Forschungsprojekte. Oder sie bitten uns um ein Unterstützungsschreiben für ihr Forschungsprojekt. Viele Forschungsförderer erwarten heutzutage, dass die Patientenseite in die Antragsstellung eingebunden wird. Ein Ausbau der Forschung ist sehr wichtig für die Diagnose und Therapie von Seltenen Erkrankungen.

Wie sieht im Vergleich dazu die Arbeit der Betroffenen-Beratung aus, die Sie auch leiten?
Ratsuchende wenden sich oft in Situationen großer Unsicherheit und damit verbundenem hohem Leidensdruck an die ACHSE. Für unsere Beraterinnen Ina Klawisch und Nicole Heider ist es erst einmal wichtig, die Betroffenen aufzufangen, ihnen zuzuhören, ihre Sorgen und Nöte zu erfassen. Für die Anfragenden ist es schon ein erster Erfolg, dass ihnen einfach mal jemand in Ruhe zuhört und ihre Probleme ernst nimmt. Im Schnitt vergehen 6 Jahre zwischen dem Auftreten der ersten Symptome und der Diagnosestellung einer Seltenen Erkrankung. In der Zeit dazwischen liegen Momente großer Hoffnung und tiefer Verzweiflung – weil die Patienten keine Hilfe erfahren, die ihre Lebenssituation verbessert.

Da sich nur wenige Mediziner mit Seltenen Erkrankungen auskennen, wandern Patienten bei der Suche nach der richtigen Diagnose von Arzt zu Arzt. Es ist dann nur eine Frage der Zeit, bis der erste Arzt den Verdacht auf ein psychisches oder psychosomatisches Geschehen äußert und die Betroffenen sich dann auch noch dagegen wehren müssen. Bei der ACHSE Beratung finden sie Gehör, meine Kolleginnen vermitteln an passende Organisationen der Patientenselbsthilfe und andere Institutionen. Sie geben ganz praktische und sozialrechtliche Ratschläge, um die Eigenverantwortung der Anfragenden zu stärken. Ebenso wichtig ist die Unterstützung von Betroffenen und Angehörigen bei der Wiedererlangung ihrer Handlungsfähigkeit. Die Beraterinnen motivieren sie, ihr eigenes Leben möglichst aktiv zu gestalten.

Können Sie uns ein Beispiel aus der Beratungspraxis geben?
Vor einigen Wochen erreichte uns der Anruf einer Frau Anfang 50 mit der Diagnose Myasthenia gravis. Diese chronische Seltene Erkrankung führt zu einer schweren Muskelschwäche. Bevor die ersten Symptome auftraten, war sie als selbstständige Friseurmeisterin tätig. Zum einen schilderte sie, dass sie mittlerweile am Existenzminium lebe, weil sie aufgrund der Erkrankung ihren Beruf nicht mehr ausüben könne. Zum anderen benötigte sie Hilfe beim Leben mit der Erkrankung. Die größte Sorge bereitete ihr, dass sie die Miete nicht mehr zahlen könne und Angst habe, ihre Wohnung zu verlieren. Als Selbstständige würde sie kein Krankgeld erhalten und sah keine Perspektive für Ihr weiteres Leben.

Wie ging es dann weiter?
Unsere Beratung hat zwei Maßnahmen empfohlen. Zunächst haben wir ihr den Kontakt zur Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) vermittelt, um ihre finanzielle Situation zu klären. Bei der EUTB arbeiten Menschen mit Handicap, die andere sozialrechtlich beraten. Im zweiten Schritt haben wir ihr den Kontakt zur passenden Patientenselbsthilfeorganisation gegeben. Nach einigen Wochen hat sie sich erneut bei uns gemeldet. Sie bedankte sich für die Hilfe und teilte mit, dass sich ihre Lebenssituation deutlich verbessert habe. Mit Hilfe der EUTB konnte sie die passenden Leistungen beantragen und ihr Mietproblem bewältigen. Nun will sie sich an eine Selbsthilfeorganisation wenden, um mehr Informationen zum Leben mit der Erkrankung zu bekommen. Ebenfalls sucht sie einen Arzt in ihrer Nähe, der sich mit ihrem speziellen Krankheitsbild auskennt.

Dieses Beispiel zeigt, wie schnell ein Mensch durch Krankheit in die soziale Abwärtsspirale kommen kann. In der Betroffenen- und Angehörigenberatung haben wir immer wieder mit Lebensumständen zu tun, in denen Erkrankte davon bedroht sind, erst ihre Arbeit und dann ihre Lebensgrundlage zu verlieren. Wir leben in einem hochkomplexen Sozial- und Gesundheitssystem, in dem sich der Einzelne Herausforderungen gegenüber sieht, die alleine nur schwer zu bewältigen sind.

Was macht die Beratung der ACHSE so besonders?
ACHSE, der Dachverband von inzwischen über 120 Patientenselbsthilfeorganisationen, bietet die einzige krankheitsübergreifende Beratungsstelle auf Seiten der Patientenselbsthilfe in Deutschland. Durch die Beratungsarbeit halten wir als Dachorganisation täglich die direkte Beziehung zu den Betroffenen und anderen Professionellen im Gesundheitswesen aufrecht. Wir arbeiten „am Puls", um konkrete Unterstützung zu leisten. Und nutzen die Erkenntnisse aus der Beratung, um gemeinsam mit dem ACHSE Team Einfluss auf die politischen Rahmenbedingungen zugunsten der Versorgung aller Betroffenen zu nehmen. Auch für die Themen unserer Fachtagungen, Workshops und Seminare orientieren wir uns besonders an den Bedarfen unserer Mitglieder. Nur mit fundierten Informationen und mehr Wissen können wir das Leben der Betroffenen verbessern.

Für ratsuchende Betroffene, Angehörige, Ärzte und andere Therapeuten ist unser Service kostenfrei. Damit dieses Angebot und die Arbeit von ACHSE auch in Zukunft geleistet werden können, brauchen wir Ihre Hilfe!

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Kontakt

Dr. med. Christine Mundlos

stellvertretende Geschäftsführerin/ ACHSE Lotsin für Ärzte und Therapeuten/ Leiterin ACHSE Wissensnetzwerk und Beratung
+49-30-3300708-0
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