Ich bin Marleen und möchte gerne meine Geschichte mit euch teilen. Ich habe eine Ausbildung als Hotelfachfrau und meinen Hotelbetriebswirt erfolgreich bestanden. Seit Mai 2020 arbeite ich in Teilzeit als Assistenz der Geschäftsführung in unserem Selbsthilfeverein Deutsche Fanconi-Anämie-Hilfe e. V.
Meine erste Operation hatte ich schon kurz nach meiner Geburt – man stellte bei mir eine Speisenröhrenfehlbildung fest. Ich selbst habe keine Erinnerungen daran, aber für meine Eltern und meinen Bruder war es sicher eine Qual, nicht zu wissen, was mit mir los ist.
Ich wuchs zu einem selbstbewussten und lebhaften Mädchen heran. Ich liebte das Leben.
Jeder Person winkte ich fröhlich zu und hatte immer ein Lächeln im Gesicht. Mit der Zeit stellten wir fest, dass ich nicht richtig sprechen und hören konnte. Die Diagnose - Schwerhörigkeit. Kein Wunder, dass „Stille Post" und weitere Spiele mit mir keinen Spaß gemacht haben. Doch anstatt sich mit mir zu beschäftigen, setzten die Erzieher mich in ein eigenes Eckchen, das mein bester Freund wurde. Die Kinder machten es den Erziehern nach und drehten mir den Rücken zu. Dabei liebte ich den Kindergarten und wollte doch einfach nur akzeptiert werden, wie alle anderen Kinder auch.
Es ging wieder auf den OP-Stuhl – an meinem einen Ohr sollte herumgewerkelt werden. Selbstbewusst bin ich auf den OP-Stuhl gestiegen - ich wollte endlich hören, die Geräusche, das Lachen anderer, die Natur und natürlich auch mitreden können. Leider war die OP kein so großer Erfolg, doch ich hörte ein wenig besser. Ich kam in einen Sprachkindergarten und war plötzlich unter Gleichgesinnten. Die Erzieherinnen gingen auf mich zu, nahmen mich an die Hand und beschäftigten sich mit mir. Ich war überglücklich und fand endlich Freunde.
Mit 5 Jahren bekam ich meine ersten Hörgeräte. Damals fand ich das so cool. Ich konnte endlich jedem Summen, Knirschen, Plätschern und Lachen zuhören. Ich suchte mir die buntesten Hörgeräte mit Papageien aus. Doch schnell merkte ich, dass nicht viele meine Begeisterung teilten. Vor allem von Kindern wurde ich komisch angeschaut. Sie tuschelten über mich und es wurde oft gelacht - Kinder können manchmal echt grausam sein. Einmal in einer Schlange, stand hinter meiner Mama und mir eine weitere Mutter mit Kind. Ich trug einen Zopf, zeigte stolz meine Papageien. Das Kind sagte zu seiner Mutter: „Mama, was hat die denn da im Ohr, das sieht aber nicht schön aus." Aus Reflex drehten wir uns um und die Mutter schaute beschämt zur Seite. Meine Mutter erklärte dem Kind, dass das was ganz Natürliches sei und mir helfe, all die schönen Dinge hören zu können und mir das nicht peinlich sein müsse. Kind und Mutter glucksten beschämt vor sich hin und hätten sich gerne versteckt. Ich strahlte vor Glück, war so stolz auf meine Mama und dankte ihr von Herzen.
Ich kam in das Alter, wo ich nur noch mit offenen Haaren aus dem Haus ging. Die Hörgeräte wurden mir doch peinlich. Noch heute kann ich in der Öffentlichkeit keinen Zopf tragen, da mich dieses Erlebnis und weitere so sehr geprägt haben. Mit meinem Freund und der engsten Familie ist es kein Problem, aber sobald jemand anderes dabei ist, mache ich sofort die Haare auf. Dabei sollte ich überglücklich sein, dass es die Möglichkeit gibt und ich all die wundervollen Dinge hören kann. Ich arbeite bereits daran und irgendwann kommt sicher der Zeitpunkt, an dem es mir egal ist – aber das wird noch ein harter Weg.
Im Zuge der Ohren-Op wurde auch eine Blutuntersuchung gemacht. Man stellte fest, dass die Werte viel zu niedrig waren und allgemein gar nicht gut aussahen. Zusätzlich hatte ich immer wieder sehr stark und lang Nasenbluten und kämpfte alle paar Monate mit schlimmen Infektionen und hohem Fieber. In der Uniklinik kam dann die erste Diagnose – Leukämie. Es fühlte sich an, wie ein Schlag in die Magengrube. Wieso? Wieso konnte nicht einfach alles normal laufen? Wieso durften wir das Leben nicht genießen? Wieso wir? Glücklicherweise stellte es sich als Fehldiagnose heraus. Was ich hatte, wusste weiterhin keiner und wir durften zu regelmäßigen Kontrolluntersuchungen kommen.
Die zweite Diagnose folgte - eine Hufeisenniere. Beide Nieren sind zusammengewachsen und liegen nicht dort, wo sie eigentlich sollten. Bis die Nieren erst einmal gefunden wurden, sind einige Stunden vergangen. Noch heute stellt das für die immer wieder neuen Ärzte eine Herausforderung dar, sodass das Spiel „Such doch mal meine Niere" Tradition erlangt hat. Oft wurde ich schon gefragt, ob ich denn überhaupt Nieren habe - ich weiß dann nie, ob ich lachen oder weinen soll. Das Gleiche auch bei meinen Venen – das Blut will nie ohne Probleme laufen. Die Narben an meinen Armen zähle ich schon gar nicht mehr – am Ende jeder Untersuchung gibt es nicht nur ein Pflaster, sondern gleich mehrere auf dem ganzen Arm verteilt. Ich ließ alles über mich ergehen – ich wollte einfach nur endlich wissen, was nicht mit mir stimmte.
Mit 6 Jahren, erhielten wir dann endlich die Diagnose Fanconi-Anämie – mein Arzt war ein Jahr in Amerika und hatte dort jemanden mit den gleichen Symptomen gesehen. Fanconi-Anämie? Was ist das? Wie schlimm ist es? Wie gefährlich ist diese Krankheit? Wie kam es zustande? Wird es unser Leben sehr umkrempeln? Was wird auf uns zukommen? Kann ich geheilt werden? Darf ich weiter Kind sein oder ist meine Kindheit nun endgültig vorbei? Was muss ich über mich ergehen lassen?
Wir hatten so viele Fragen im Kopf – die wichtigsten waren für meine Mutter: Ist es unheilbar? Ist es tödlich? Doch sie traute sich nicht, diese Fragen zu stellen, denn die Angst vor der Antwort war zu groß. Wir wussten nicht, was auf uns zukommt. Die Erkrankung war nicht gut erforscht und viele unserer Fragen blieben unbeantwortet. Damals sagten die Ärzte zu meiner Mutter: „Seien Sie glücklich, wenn Ihre Tochter 12 Jahre alt wird".
Im Jahr 1999 hatte meine Mama gute Nachrichten – sie hatte eine Familie getroffen, in der zwei Mädchen ebenfalls Fanconi-Anämie hatten. Es sollte ein großes Familientreffen mit Ärzten und weiteren Betroffenen geben. Es war unglaublich. Plötzlich gab es einen Ort, an dem ich sein konnte, wie ich bin und musste mich nicht verstellen. Alle sprachen eine Sprache. Ging es einem nicht so gut, musste man es nicht erklären, denn die anderen verstanden es.
Wir machten weiter, verloren nicht den Mut und die Lebensfreude. Ich wurde 12 und man fand heraus, dass ich einen angeborenen Herzfehler habe. Die nächste Operation stand an und nichts verlief, wie es sollte. Meine Erinnerung ist verschwommen, wie ich halb betäubt von der Operation noch auf dem Flur lag, meine Mutter drückte die aufgeplatzte blutende Operationswunde. Es gab Komplikationen und ich brauchte lange, um mich zu erholen. Häufige Infektionen und niedrige Blutwerte werden mich mein Leben lang begleiten.
Je älter ich wurde, desto mehr verlor ich mein Selbstbewusstsein und meine Lebensfreude. Wann und wieso es genau anfing, kann ich nicht sagen. Diese plötzliche Angst und der Schatten waren auf einmal da. Schon von Kindheit an musste ich mich durch den Tod meines Vaters mit dem Thema auseinandersetzen. Wir sprachen immer offen darüber. Zwar mit Tränen in den Augen, aber es tut gut und ist wichtig. Durch die Diagnose der Fanconi-Anämie lernte ich Gleichgesinnte kennen und wir verstanden uns immer gut. Leider starben einige sehr früh. Mittlerweile kann ich an einer Hand abzählen, wer noch heute von früher um sein Leben kämpft.
Eine Erinnerung schleicht sich immer wieder in meine Gedanken. Sie ist zugleich schön, aber auch traurig. Eine Freundin verlor ihren Kampf gegen die Fanconi-Anämie und wir waren dort zur Beerdigung. Ich wusste, sie liegt oben in ihrem Bett und ihre Seele ist bereits weitergewandert.
Habe ich den Mut und die Kraft zu ihr zu gehen und Lebewohl zu sagen? Mache ich es nicht, bereue ich es mein Leben lang. Mit einem mulmigen Gefühl ging ich zu ihr und wusste nicht, was mich erwartete. Ihr Vater massierte ihr die Füße und wir sprachen mit ihr. Langsam tastete ich mich heran, setzte mich neben sie und nahm ihre Hand. Es fühlte sich kühl an, doch es sah aus, als würde sie friedlich und mit einem Lächeln im Gesicht schlafen. Langsam verabschiedete ich mich von ihr. Natürlich packte mich die Trauer und ich musste gehen. Ich bereute keine Minute.
Diese Angst davor, den nächsten Tag nicht mehr erleben zu können, bohrte sich immer weiter in meine Gedanken. Ich konnte sie nicht abschalten und abends im Bett holten sie mich immer wieder ein. Irgendwann in der Nacht siegte die Müdigkeit und ich weinte mich in den Schlaf. Ich fraß alles in mich hinein, erzählte niemandem davon und ließ es mir nicht anmerken. Doch irgendwann konnte ich nicht mehr kämpfen, mein Mut verließ mich und das Loch unter mir wurde immer tiefer und dunkler. Bevor es mich komplett verschlucken konnte, vertraute ich mich meiner Mutter an und bat um Hilfe. Ich selbst wusste nicht mehr weiter.
Ich ging zu einer Jugendtherapeutin. Ich kam mit ihr nicht besonders gut zurecht, zugleich päppelte sie mich jedoch wieder langsam auf. Irgendwann sagte sie mir, ich solle meine Familie in Tieren malen. Zu Hause erzählte ich das meinem Bruder und meiner Mutter. In diesem Moment mussten wir so herzlich lachen und ich merkte, dass etwas in mir bröckelte. Die Mauer, die ich um mich herum gebaut hatte, bekam einen Riss und die Sonnenstrahlen in meiner Seele blühten wieder auf. Es ging langsam, Schritt für Schritt bergauf, der Weg war steinig und schwer, doch ich nahm die Herausforderung an und bin noch heute stolz auf mich.
Lange wollte ich selbst nicht sehr viel von meiner Krankheit wissen. Ich fragte mich oft, wieso ich? Die Signale meines Körpers habe ich gekonnt ignoriert. Ich wollte gesund sein und wie alle andern behandelt werden. Jetzt, knapp 30 Jahre später, habe ich verstanden, dass das so nicht funktioniert.
Ich habe gelernt, dass ich auch mal schwach werden darf. Dass ich eine Pause einlegen darf und nur die Hälfte erledige. Ich habe meine Erkrankung zu meiner Arbeit gemacht und versuche das Positive zu sehen. Ohne die Fanconi-Anämie hätte ich nicht so viele wundervolle Menschen auf der ganzen Welt kennengelernt.
Durch meine Arbeit im Verein kann ich Gleichgesinnte unterstützen und der Fanconi-Anämie eine noch lautere Stimme geben – und darauf bin ich verdammt stolz.
Mein Arbeitsumfeld ist an meine Belastbarkeit angepasst und seitdem geht es mir viel besser. Ich habe gelernt, die Krankheit zu akzeptieren und bin gerade durch meine Arbeit viel stärker und selbstbewusster geworden.
Das Leben mit einer seltenen chronischen Erkrankungen ist kräftezehrend. Umso wichtiger ist es, auf seinen Körper zu hören: Wenn dein Körper nach einer Pause fragt, dann nimm sie an. Wenn deine Seele nach Ruhe sucht, dann akzeptiere es. Wenn du diese Momente brauchst, dann nehme sie für dich. Du verdienst es und musst dich nicht rechtfertigen. Sei du selbst und mache das, was dich glücklich macht.
Fanconi-Anämie ist eine genetische bedingte Erkrankung mit einem sehr komplexen Erscheinungsbild. Die Mutation der FA liegt im Reparaturmechanismus aller Zellen und kann jeden Teil des Körpers betreffen.
Viele von FA Betroffene entwickeln bereits im frühen Kindesalter ein Knochenmarkversagen. Auch Leukämie kann sich gehäuft entwickeln. Beide Erkrankungen können eine Knochenmarktransplantation unumgänglich machen. Ebenso haben die FA-Betroffenen im Alter zwischen 25 und 35 Jahren ein ca. 700-faches Risiko an bösartigem Schleimhautkrebs zu erkranken. Häufig wird dieser Krebs viel zu selten frühzeitig erkannt, was die Behandlung sehr erschwert und die Überlebenschance deutlich reduziert.
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